Wie kann in der JVA eine Substitution erreicht werden?

Ich besuchte am 4.11.2011 auf 20. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin mit dem Titel „20 Jahre Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin – die Matura erreicht?“ den Workshop „Wie kann in der JVA eine Substitution erreicht werden?“.

Das Podium war besetzt mit:

  • Prof. Dr. Heino Stöver (Vorsitzender des Bundesverbandes für akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik und geschäftsführender Direktor des Fachbereich 4 – Soziale Arbeit und Gesundheit an der FH Frankfurt)
  • Karlheinz Keppler (Substituierender Arzt im Frauengefängnis, Vechta/Deutschland)
  • Sabine Mauruschat, Beisitzerin im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin DGS)
  • Bärbel Knorr (Fachbereich Drogen und Strafvollzug der Deutschen AIDS-Hilfe)
  • Herr Oelbermann (Anwalt)

Unter den Gästen waren Herr Heimchen von der akzeptierenden Eltern sowie jede Menge Ärzte, darunter auch mindestens 3, die in Berliner Gefängnissen für die Substitutionsbehandlung verantwortlich sind.

Ich habe die Aussagen so wiedergegeben wie ich sie aufgefasst und notiert habe, falls sich jemand falsch wiedergegeben fühlt, kann er sich gerne bei mir melden. Einige kleine Ergänzungen von mir stehen in Klammern.

Unter dem Artikel gibt es eine Materialsammlung und weiterführende Links.

Stöver: Das gemeinsame Ziel: Während draußen die Substitutionsbehandlung (OST) inzwischen – trotz aller Probleme – die etablierte Behandlungsmethode für Opiatabhängige, ist der Transfer in den Maßregelvollzug, die JVAs und die Langzeittherapie noch nicht gelungen. Zur Bewertung was wann wo wie bei wem hilft, verwies er auf den Ansatz im angelsächsischen Raum Kommissionen zur Bewertung der Evidenz oder des gesundheitsökonomischen Nutzen einzurichten. Eine Untersuchung eines englischen Lords (vermutlich Mitglied des Oberhauses) ergab: Die beiden besten Mittel sind Substitutionstherapie und eine Vorbereitung auf die Haftentlassung. Zur Abdeckungsrate (Coverage Rate) bei OST in der JVA äußerte er die Schätzung dass 75.000 Menschen eine OST erhalten, es sitzen schätzungsweise 16500-222000 intravenös konsumierenden Drogenabhängigen im Gefängnis, die Abdeckungsrate liegt dort bei 5-10%, in Freiheit bei 40-50%. OST gibt es in 3 von 4 JVAs, ein einigen Ländern wie Bayern (so gut wie) gar nicht – dort weht einem auch ein „eisiger Wind“ von den JVA Ärzten entgegen.

Das Ziel dort sei weiterhin Abstinenz (das Dogma der deutschen Drogenpolitik). Wir haben aber die Evidenz auf unserer Seite. OST bringt Reduktion des iv Konsum um 55-75% und beim Spritzentausch 47-73%. Studien dazu sind Larney S. Addiction 105, 216-223 und Hedrich D. Addiction in Press, eine Metaanalyse aller Untersuchungen, die alles abdeckt was das Herz begehrt: HIV, Beikonsum, Mortalität, Gewalt, Rückfälle… Summa summarum: OST ist nicht der Königsweg, aber sehr wirksam. Weitere Studie: Dolan 2005 Sidney – Die Kanadier und Australier sind Evidenzfans – während in Deutschland eher die Ideologie herrscht.

Die Richtlinie der Bundesärztekammer aus 2010 sagt auch ganz klar: OST auch bei Inhaftierung und Kontinuität der Behandlung ist wichtig. Trotzdem werden schätzungsweise 70% der Inhaftieren innerhalb von 3-14 Tages ausgeschlichen. Vorbilder sind bei diesem Thema Spanien und Österreich. Die BÄK sagt auch: OST auch vor der Haftentlassung, immerhin empfiehlt sich dies inzwischen auch die Richtlinie aus NRW, dieser klare Wink von oben hat gewirkt – so ist das in hierarchieorientieren Systemen halt. Der Stand von 2009, abgefragt durch die DAH, mit einer Abdeckung von nur 0,7% hat sich massiv verbessert. Das Ziel in NRW ist nun klar OST – die Haftdauer hat keinen Einfluss. Die Zeitverzögerung bei der Durchsetzung der OST in der JVA liegt bei 10-15 Jahren im Vergleich zu „draußen“.
Der Drogentod bei einem Rückfall nach einer Haft oder anderen Phasen der erzwungenen Abstinenz ist ein großes Problem, die WHO schätzt dass 20% der 1300 Drogentoten deswegen ums Leben kommen. Das Risiko ist in der ersten Woche nach der Haftentlassung um den Faktor 28-58 erhöht, in der 2. bis 5. Woche nur noch um den Faktor 1-4. Die Rückfallquote liegt bei 90%. Die Mitgabe von Nalaxon und ein Erste Hilfe Training – unabhängig ob der Gegangene Drogenkonsum war oder nicht – hat in Wales und England großen Erfolg gehabt.

Der Konsens sollte lauten: Es wirkt! Wir brauchen interdisziplinäre Teams, Einbeziehung der Selbsthilfe, Standards und Leitlinien und Kooperation mit Draußen. Themen wären zudem gezielte Mortalitätsprophylaxe, eben Naloxon, das gibt es in Deutschland nur im ganz geringen Umfang im Gefängnis (draußen Fixpunkt), Diamorphingabe in der JVA, da ist Baden-Württemberg dran, Alkohol- und Tabakprävention – Tabak ist auch spannend weil es mit anderen Substanzen wechselwirkt – sowie die Behandlung von HIV, HCV und psy. Störungen.

Akzept wird im 3. Quartal 2012 hierzu eine Veranstaltung durchführen. Bei der Letzten waren immerhin JVA Vertreter aus 15 Bundesländern, es half das NRW Erfolge vorzuweisen hatte.

Das Projekt Spritzentausch ist „versandet“.

Die URL zum Thema lautet gesundinhaft.eu

OST 6 Monate vor Haftentlassung ist teilweise erwünscht, teilweise abgelehnt weil die Haft als Teil einer drogenfreien Phase angesehen wird.

Liegt OST im Interesse der JVA Leitung? Ja! Vorteile für die JVA: Weniger Drogenhandel, Beschaffungsprostitution…

Feedback von den anwesenden Ärzten: FRUST! Wir sind ja da und bieten OST, haben aber zu wenig Personal. Wenn es schon außerhalb des Gefängnisses Probleme gibt genug Ärzte zu finden, wie soll es dann in der JVA besser sein. Die DGS ruft auf Ärzte und JVA Leitung zu verklagen – das hilft uns nicht.

Stöver: Es geht nicht gegen die Ärzte, der Zustand ist ein Skandal und als solcher zu benennen. JVA Ärzte wirken leider nur auf ihrer Insel, es gibt zu wenig Organisation um eigene Forderungen zu artikulieren.

Die DAH berichtet: Wir schreiben alle 3 Jahre als JVAs an, zuletzt 2009. In Bayern und Ostdeutschland gibt es keine OST außer Meck-Pom. Auch keine Fortführung in Haft möglich, klarer Widerspruch zur BÄK Richtlinie. Indikation von OST in der Haft gibt es in einigen Bundesländern, die einzige Ausnahme bei Bayern ist bei Schwangeren. In BaWü gibt es – neben BTMG und BTMVV – einen eigenen Erlass, in Hessen und Hamburg zumindest Leitlinien. Die BÄK Richtlinie gilt theoretisch auch, die BUB ebenso obwohl dies gar nicht vorgeschrieben ist.

Kappler: Es muss das Äquivalenzprinzip gelten, in NDS wollten einige JVAs nicht, der entsprechende Erlass wurde extra deswegen geändert.. JVAs sind eigentlich optimal weil alle (personellen) Voraussetzungen für OST gegeben sind. OST ist die lege artis.

Es folgen Diskussion und Ausführungen aus der ärztlichen Praxis mit anwesendenden Ärzten

Fazit: Die Klage ist wohl in Bayern notwendig, in Berlin braucht es Druck damit sich der Rahmen ändert.

DAH: Die Idee der Klage kommt aus England, dort war sie erfolgreich.

Bericht über die Klage von Herrn Oelbermann: Rechtsstaatlichkeit ist in Berlin mehr gegeben als in Bayern, dort ist der Justizvollzug „rechtsstaatsfern“ und vermutlich zu 90% rechtswidrig.

Begründung der JVA zur OST Ablehnung: „Haben wir noch nie gemacht“. Darauf kann man auf zwei Arten reagieren: Schwer ist es eine Verpflichtung zu erwirken, leichter ist die Ablehnung anzufechten, darauf gibt es ein neuen Bescheid, ggf. mit einem neuen Grund für eine Ablehnung, gegen den kann man das Anfechten etc. (wie bei Cannabis als Medizin). Das praktische Problem ist dass die Anfechtung innerhalb von zwei Wochen geschehen muss, was für jemand im Gefängnis (im tiefen Wald in Bayern) ohne Hilfe von Außen kaum möglich ist. Eine Ablehnung kann entweder darin begründet liegen dass es medizinisch nicht indiziert ist oder es mit dem Haftziel nicht kompatibel ist. Es gab schon ein Sieg beim LG Augsburg, European Prision Rules schreiben OST eigentlich vor.

Es bleibt spannend…