Zwischen rationalen und irrationalen Verschwörungstheorien und naiven Erklärungsansätzen zum Cannabisverbot möchte ich die von mir persönlich derzeit favorisierte Antwort zu dieser Frage skizzieren. Diese Antwort erhebt nicht den Anspruch vollständig zu sein, aber sie scheint mir einiges erklären zu können und sollte damit ein guter Ausgangspunkt für bessere Theorien sein. Hier erst einmal einige Gedanken aus denen meine noch auszuformulierende Antwort basiert.
Cannabis wurde wie andere Drogen oder Medikamente zur Jahrhundertwechsel reguliert. Es wurde primär aus dem Ausland importiert, wurde in der Medizin eingesetzt, war – im Gegensatz zum Alkohol – nur die Droge einer kleinen Minderheit und hat keine Öffentlichkeit. Parallel dazu wurde Marihuana als kulturfremde Droge der Mexikaner beschrieben und öffentlich gegen sie gehetzt – Stichwort Anslinger. Um zu verstehen wie es zum Cannabisverbot in den USA kommen konnte, lohnt es sich die Alkoholprohibition zu betrachten. Dieses Verbot von Alkohol war noch größer in seinem Umfang als das Verbot von Cannabis, endete aber auch umso schneller. Wie konnte es zu diesem Verbot kommen? Warum endete es? Und welche Effekte hatte es auf die Cannabispolitik? Hier einige besonders erwähnenswerte Aspekte:
Zum Zeitgeist in den USA vom Beginn der Progressive Era in den 1890ern bis 1937 (Marijuana Tax Act) ist zunächst einmal anzumerken, dass das Verbot von Cannabis im Vergleich zu anderen politischen Entscheidungen zu dieser Zeit nichts Außergewöhnliches darstellt. Staat, Zivilgesellschaft, Politikwissenschaft und Wissenschaft waren damals noch auf einem ganz anderen Niveau. Viele Konzepte dazu wie z.B. eine Regierung agieren sollte, die uns heute selbstverständlich erscheinen, waren es damals nicht. Es gab noch keine Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und eine Gleichstellung von Afroamerikanern (oder anderen „Rassen„) mit Weißen Amerikanern war noch undenkbar.
Zu dieser Zeit wurden in Europa Schädel vermessen und auf dieser „rassenkundlichen“ Grundlage Politik gemacht. In den USA waren es die Progressiven, die die Alkoholprohibition vorantrieben. Die gleichen Menschen wollten die USA modernisieren, Korruption bekämpfen und das Frauenwahlrecht einführen. Ihr Wunsch nach einem Verbot von Alkoholhandel und -herstellung erfüllte sich nahezu zeitgleich mit ihrer Forderung nach einem Frauenwahlrecht.
Die Woman’s Christian Temperance Union, die Anti-Saloon League und die Prohibition Party entstanden nicht aus dem Nichts, lokale Einschränkungen des Alkoholhandels sind so alt wie der Puritanismus selbst, Calvin schloß zu seiner Zeit in Wien Wirtshäuser, verdammte den Alkohol und exkommunzierte Alkoholiker. Die Gegenbewegung zu den Alkoholprohibitionisten, die Anti-Temperance-Societies, waren zumeist katholisch oder gehörten den Baptisten an. Für sie war Alkohol eine Gabe Gottes (Gert Raeithel: Geschichte der nordamerikanischen Kultur. 1600 bis 2002. 4. Auflage. Bd. 2. Frankfurt am Main 2003, S. 77.)
Das Ende der Prohibition wurde durch die demokratische Partei sowie katholische Bürgerrechter und Wirtschaftsvertreter erreicht (Peck, Garrett (2011). Prohibition in Washington, D.C.: How Dry We Weren’t. Charleston, SC: The History Press. pp. 125–133. ISBN 978-1-60949-236-6.).
Am Ende des „noblen Experiments“ (Prohibition: The Noble Experiment Oracle ThinkQuest) sahen immerhin einige ein dass sie ein Fehler war. So schrieb John D. Rockefeller, Jr. 1932 in einem Brief (Daniel Okrent, Great Fortune: The Epic of Rockefeller Center, New York: Viking Press, 2003. (pp.246/7)):
When Prohibition was introduced, I hoped that it would be widely supported by public opinion and the day would soon come when the evil effects of alcohol would be recognized. I have slowly and reluctantly come to believe that this has not been the result. Instead, drinking has generally increased; the speakeasy has replaced the saloon; a vast army of lawbreakers has appeared; many of our best citizens have openly ignored Prohibition; respect for the law has been greatly lessened; and crime has increased to a level never seen before.
Die Alkoholprohibition ist ein Musterbeispiel für die Ausweitung von Staatlichkeit, von Marktregulierung und staatlicher Reaktionen auf soziale Probleme.
Auch war die Polizei noch nicht so weit entwickelt wie heute. Das New York City Police Department wurde erst 1845 gegründet, die erste Landespolizei wurde 1905 mit der Pennsylvania State Police gegründet – Anlass war der Kohlestreik im Jahr 1902. Polizei war zum Jahrhundertwechsel wenig spezialisiert, hatte einen geringen Rückhalt in der Bevölkerung und war unprofessionell und korrupt.
Das BOI, der Vorläufer des FBI wurde erst 1908 gegründet. Seine Kompetenzen wurden in den „Lawless Years“ (1921-1933) sukksezzive ausgeweitet. Als 1924 J. Edgar Hoover das FBI übernahm, hatte es 650 Angestellte, davon 441 Special Agents – heute sind es 35000. Hoovers Illiberalismus und puritanische Ansichten zeigten sich bei seinem Kampf gegen den Kommunismus und gegen die Bürgerrechtsbewegung. Das Federal Bureau of Prohibition hatte 1930 4386 Mitarbeiter. Nach dem Wegfall der Alkoholprohibition waren diese arbeitslos und neue Aufgaben waren willkommen.