Doping als Ergebnis der kapitalistischen Logik
1963 brachte der schweizer Konzern F. Hoffmann-La Roche AG unter dem Handelsnamen Valium den Wirkstoff Diazepam auf den Markt. Nach Chlordiazepoxid war Diazepam das zweite entdeckte und das bis heute in Deutschland meistverkaufte Benzodiazepin. Angstlösend, schlaffördernd und beruhigend wurde mit diesem „Mother’s Little Helper“ eine Substanz verfügbar, die unser Wohlbefinden mittels einer Pille beeinflussbar machte. In den folgenden Jahrzehnten schuf und bewarb die Pharmaindustrie fleißigst eine Vielzahl an Mittelchen, mit denen wir uns für den Alltag dopen können. In Apotheken verkauft und ohne den Ruch der parallel verbotenen und bekämpften Jugenddrogen wie Cannabis wurde die Bevölkerung für Soma bereit gemacht. Heute ist Doping, also Steigerung von Leistung und Wohlbefinden mittels Neuropsychopharmaka, selbstverständlich geworden. Nicht nur die Tour de France läuft trotz aller „Skandale“ weiter. Während der Fußballweltmeisterschaft werden Spieler offen „fit gespritzt“ und bei Marathonläufen nehmen mehr als 30 Prozent der HobbysportlerInnen vor dem Start Schmerzmittel ein.
In der Logik des Marktes entspricht der Wert eines Menschen seinem Arbeitsvermögen – inzwischen ist dies nicht mehr ein körperliches Attribut, sondern eine Frage des Geistes und des Gemüts. Doping auf der Arbeit und im Privaten – falls dies überhaupt noch getrennt werden kann – ist dementsprechend eine vernünftige Handlung, wenn die Kosten-Nutzen-Bilanz positiv ist. Gerade die „LeistungsträgerInnen“ der oberen Mittelschicht greifen gerne zu Mittelchen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu steigern; einige schlucken Pillen, bis die Synapsen japsen. Laut einer Studie der Krankenkasse DAK greifen fast eine Million ArbeitnehmerInnen regelmäßig Arzneien, um ihre Leistungen am Arbeitsplatz zu erhalten oder zu erhöhen. Hier reicht die Palette von verschreibungspflichtigen Benzodiazepinen über eine Vielzahl frei verkäuflicher pflanzlicher Mittelchen wie Ginkgo (für die geistige Leistungsfähigkeit), Johanniskraut (Antidepressiva) und Baldrian (Beruhigungsmittel) sowie Schmerzmittel, um mit Grippe oder Kater zur Arbeit erscheinen zu können, bis hin zu den modernen Neuro-Enhancern, den Schlaftabletten unserer Zeit, wie Methylphenidat („Ritalin“), Modafinil und Co. Die Untersuchung der DAK zeigt sicherlich, dass Doping am Arbeitsplatz ein Massenphänomen ist, aber es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Zahl der NutzerInnen nicht weiter steigt. Bei Umfragen unter SchülerInnen, Studierenden oder ProfessorInnen gehören 20-40 % zu den KonsumentInnen von Neuro-Enhancern, in den USA nehmen inzwischen 10 % der Bevölkerung Antidepressiva. Im Gegensatz zum Sport haben die Nutzer_innen des alltäglichen Dopings keinerlei Sanktionen zu befürchten, allein die noch nicht überzeugende Performance der verfügbaren Substanzen hält die Gruppe derer, die Doping offen gegenüberstehen, aber es bisher nicht nutzten, von einem Einsatz ab.
Seitdem uns bewusst wurde, dass wir in einer Risikogesellschaft leben, in der eine abstrakte Gefahrenlage allgegenwärtig ist, sind wir bereitet geworden, scheinbar kalkulierte Risiken einzugehen. Ob Tschernobyl oder der 11. September, das Unbehagen beim Anblick sich immer weiter ausbreitender Gen- und Nanotechnologie oder das Damoklesschwert des Klimawandels – es ist alles möglich, außer der Ausweg. Wir sollen gleichzeitig flexibel sein, funktionieren und hey, no risk no fun! Doping und Drogenkonsum sind da die logische Konsequenz, sei es für ein gleichgültiges Roboten im Konsumkapitalismus oder die Flucht vor diesem System. Bei der Bewertung der möglichen negativen Folgen wie Persönlichkeitsveränderungen und Autonomieverlust sollte nicht vergessen werden: Sind dies denn neue Phänomene oder nicht eher die Effekte unseres kapitalistischen Systems wie wir sie überall finden? Welche Autonomie haben wir denn in diesem System, welche selbstgewählten oder eingetrichterten Veränderungen unserer Persönlichkeit nahmen wir schon hin, um zu funktionieren? Müssen wir denn immer gut drauf sein?
Das Ergebnis dieser Gedanken ist sicher nicht der Ruf nach Verboten der genutzten Substanzen. Das Drogenverbot bei Cannabis, Heroin und Co. hat bereits genügend Schaden angerichtet und sich als völlig untauglich erwiesen, Probleme mit und wegen Drogen zu bekämpfen. Eine Dopingpolitik der praktischen Vernunft setzt wie in der Drogenpolitik auf die Befähigung der Menschen, mündige Entscheidungen zu treffen und eine Regulierung des Marktes, hier also der Pharmaindustrie. Damit ist man schnell an der Front der Realpolitik, betrachtet man beispielsweise die Bestrebungen, das Werbeverbot für rezeptpflichtige Medikamente abzuschaffen. Im realkapitalistischen System steht jede Dopingpolitik unter Druck der bürgerlichen Verwertungslogik und wandelt auf einem schmalen Grad des Emanzipatorischen zwischen der Freiheit entfesselter Märkte und dem moralischen Kontrolldrang. Wenn gesunde Menschen Medikamente nehmen, muss das Gesellschaftssystem als Ganzes krank sein. In einer fernen, transhumanistischen Vision nach dem Ende des Kapitalismus bieten Möglichkeiten der Neuropsychopharmaka eine Chance zur echten Optimierung des Menschen…
Erschienen im SPUNK 63, Mitgliederzeitschrift der GRÜNEN JUGEND; Nach dem Vortrag von Günther Amendt auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin 2010 in Berlin