Berlin. Das Kommissariat für den Fall des Breitscheidplatz-Attentäters klagte früh über fehlende Mitarbeiter. Es änderte sich fast nichts.

Immer neue Ermittlungsverfahren und immer neue Warnungen über anschlagsbereite Islamisten – aber keine zusätzlichen Mitarbeiter: Die Beamten des Anti-Terror-Kommissariates 541 des Landeskriminalamtes (LKA) hatten ihrem Chef schon häufiger mitgeteilt, ihrer Aufgabe, Anschläge zu verhindern und Terroristen hinter Schloss und Riegel zu bringen, nicht mehr gerecht werden zu können. Dann, am 12. Oktober 2015, beschloss er, seine Vorgesetzten darüber zu informieren. Die „Überlastungsanzeige“ liegt der Berliner Morgenpost und dem Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) vor. Sie lässt die Versäumnisse im Fall des späteren Attentäters vom Breitscheidplatz im neuen Licht erscheinen. Denn das offenbar hoffnungslos überforderte Kommissariat 541 war nach dem Brandbrief auch für den Fall Anis Amri zuständig – und wurde von den Verantwortlichen der übergeordneten Dienststellen mit den Personalsorgen wohl alleingelassen.

In der Überlastungsanzeige informierte der Kommissariatsleiter die übergeordnete Dienststelle, „dass eine sachgerechte Bearbeitung der hier anhängigen Vorgänge nicht mehr gewährt werden kann“. Wegen fehlender Mitarbeiter könne die „Qualität und Tiefe von Ermittlungsmaßnahmen nicht in allen Fällen dem Optimum entsprechen“. So stehe in einem Verfahren gegen Besucher der dschihadistischen Fussilet-Moschee noch die Auswertung der Beweismittel aus. Auch die Kontrolle potenzieller Attentäter mochte der Beamte nicht garantieren. Eine „sachgerechte Bearbeitung von Gefährdersachverhalten“ könne nur nach „kritischer Prüfung unter Abwägung vorhandener Ressourcen erfolgen“.

Etwa jeder vierte Mitarbeiter war krankgeschrieben

Auch andere Anti-Terror-Ermittler berichteten über unhaltbare Zustände. Alle hätten gewusst, dass man auch in Berlin mit einem Anschlag rechnen musste, berichtet ein Beamter in einem Schreiben, dessen Inhalt der Berliner Morgenpost und dem RBB bekannt ist. Den Kollegen sei angesichts der Personalnot aber klar gewesen, dass sie den Anforderungen nicht gerecht werden konnten. Sie klagten über die hohe psychische Belastung. Zwischenzeitlich seien bis zu 25 Prozent der Mitarbeiter krank gewesen. Führungskräfte hätten von „Pandemie-Werten“ gesprochen.

Der Laster, mit dem Anis Amri am 19. Dezember 2016 auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz zwölf Menschen tötete
Der Laster, mit dem Anis Amri am 19. Dezember 2016 auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz zwölf Menschen tötete © dpa | Michael Kappeler

Dann, im Februar 2016, reiste der spätere Attentäter Anis Amri aus Nordrhein-Westfalen nach Berlin. Die Generalstaatsanwaltschaft leitete wenig später ein Verfahren wegen Terrorverdachts ein. Im LKA wurde das Kommissariat 541 mit den Ermittlungen beauftragt – und dort zeigte sich, wohin die von der Führung offenbar weitgehend ignorierte Personalnot führen konnte.

So wussten die Beamten, dass Amri praktisch fortwährend mit Drogen dealte. Die Staatsanwaltschaft erkannte auch die Chance, den Gefährder deswegen womöglich aus dem Verkehr ziehen zu können. Doch die Ermittlungen des LKA 541 kamen nie richtig in Gang. Die Mitarbeiter versäumten es auch, den Fall an die Kollegen des Drogendezernats abzugeben. Mutmaßlicher Grund: zu viele Ermittlungsverfahren, zu viele Gefährder, zu wenig Zeit, um sich um einen vermeintlich doch nicht so gefährlichen Drogendealer zu kümmern.

Die Überlastungsanzeige war inzwischen offenbar in einer der vielen Hierarchieebenen des LKA versandet. Eine nennenswerte Aufstockung des Personals habe es bis zum Anschlag am Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016 nicht gegeben, versichern mehrere Mitarbeiter des Kommissariats 541. Ihre Namen wollen sie lieber nicht in der Zeitung lesen. Dafür redet der Sprecher der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Benjamin Jendro. Die zuständigen Führungskräfte hätten die Kollegen alleingelassen, sagt Jendro. „Die Überlastungsanzeige war ein ultimativer Hilferuf. Die Verantwortlichen hätten zeitnah zusätzliches Personal abordnen oder die höhere Hierarchieebene informieren müssen“, sagt Jendro. „Im Zweifel hätte das bis zum Innensenator gehen müssen.“ Zu wenig Personal habe es zwar auch in anderen Dienststellen gegeben. „Gerade bei der Terrorbekämpfung darf die Polizeiführung aber nicht die Hände in den Schoß legen und hoffen, dass alles gut geht. Das hat der Anschlag vom Breitscheidplatz leider deutlich gezeigt.“

Berlin gedenkt der Opfer vom Breitscheidplatz

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    Nach dem Anschlag mit einem Sattelschlepper auf dem Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche waren die Islamismus-Experten des LKA zunächst fast ausschließlich damit beschäftigt, die (wohl auch der Personalnot geschuldeten) Versäumnisse im Fall Amri aufzuarbeiten. Anfragen von Journalisten und Abgeordneten, Krisensitzungen beim Innensenator, Aktenaufarbeitungen für Untersuchungsausschüsse: Die regulären Ermittlungen zu potenziellen Terroristen kamen fast zum Erliegen. Das zeigt ein Vermerk zur „Arbeitsbelastung des LKA 54“ vom 18. Januar 2017. Auch dieses Schreiben liegt der Berliner Morgenpost und dem RBB vor. Es gleicht einer Kapitulationserklärung.

    Gewaltbereite Islamisten standen nicht mehr im Fokus

    Die bundesweit verpflichtende Aktualisierung sogenannter Personagramme mit Informationen über islamistische Gefährder war in 20 von gut 70 Fällen „überfällig“. Weiter heißt es, von den knapp 90 Vorgängen des Kommissariats 541 seien fast 70 „aus Kapazitätsgründen momentan nicht in Bearbeitung“. Die Auswertung von Beweismitteln in Strafverfahren gegen den Hassprediger einer einschlägig bekannten Salafisten-Moschee oder gegen Mitglieder einer algerischen Schleuserbande, die mutmaßlich einen Anschlag in Deutschland geplant hatten: Sie konnten „nicht in der gebotenen Eile weiterverfolgt werden“.

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      Ausgerechnet in den Wochen nach dem bis dahin schwersten islamistischen Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik mussten gewaltbereite Islamisten eine Überwachung durch die Berliner Polizei offenbar nicht fürchten. So heißt es in Bezug auf das Anti-Terror-Kommissariat 544: „Eine operative Bearbeitung der Gefährder, für die 544 zuständig ist, erfolgt momentan nicht, was uns in der Zukunft definitiv schwer treffen könnte.“ In Klammern der Zusatz: „siehe Anis Amri“.

      Die Fragen, die sich aus den Schilderungen über die Personalnot der Anti-Terror-Fahnder ergeben, kommen der Behördenleitung der Polizei äußerst ungelegen. Denn wegen der Versäumnisse und verpassten Chancen im Fall Amri steht sie ohnehin in der Kritik. Erst nach zweimaliger Anfrage der Berliner Morgenpost bestätigte die Pressestelle denn auch die Existenz der Überlastungsanzeige vom Oktober 2015.

      Neben vergleichbaren Personalanforderungen anderer Dezernate habe es deswegen eine „systematische Erhebung innerhalb des gesamten LKA 5 gegeben“, versichert Polizeisprecher Winfrid Wenzel. Nach den Terroranschlägen auf Mitarbeiter der französischen Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ im Jahr 2015 in Paris seien im Dezernat zur Bekämpfung des islamistischen Terrorismus sieben zusätzliche Dienstkräfte eingesetzt worden. Die Überlastungsanzeige beziehe sich insofern auf einen Dienstbereich, „der im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten bereits Ziel personeller Verstärkungen gewesen ist“. Polizeipräsident Klaus Kandt sei nicht über die Überlastungsanzeige informiert worden. Unangenehme Fragen wird Behördenchef Kandt dennoch beantworten müssen, ebenso LKA-Leiter Christian Steiof. Im Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses zur Aufklärung des Behördenhandelns im Fall Amri werden sie demnächst als Zeugen aussagen.

      Immerhin: Die Islamismus-Kommissariate haben mittlerweile erheblich mehr Personal erhalten. Vorübergehend wurden die Anti-Terror-Fahnder sogar durch eine komplette Mordkommission unterstützt. Im Doppelhaushalt 2018/19 sind für das LKA 171 neue Stellen vorgesehen, 26 davon für die Islamismus-Kommissariate.

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