Alternative Drogenpolitik

Reizdarmsyndrom – Provisorische Leitlinie zum Einsatz von Cannabis als Medizin

Dieser Artikel gibt einen Überblick über das Reizdarmsyndrom (Klassifikation, Verbreitung, gängige Therapieoptionen) sowie über den Einsatz von Cannabis als Medizin (Allgemeine Bewertung, Studienlage, Erfahrungen und Berichte von Ärzten und Patienten sowie Informationen zum Beantragen einer Ausnahmegenehmigung). Der Artikel ist Teil einer provisorischen Leitlinie zum Einsatz von Cannabis als Medizin.

Allgemeines zum Reizdarmsyndrom

Name der Erkrankung: Reizdarmsyndrom (RDS)

Synonyme: Irritables Darmsyndrom (IDS) (englisch irritable bowel syndrome (IBS)), Reizkolon, Colon irritabile, „nervöser Darm“

Art der Erkrankung: Der Begriff Reizdarmsyndrom bezeichnet eine Gruppe funktioneller Darmerkrankungen.

Zuständiger Facharzt: Gastroenterologe

Klassifikation nach ICD-10: K58.

Beschreibung: RDS ist eher ein Sammelbegriff, die Ausprägung der Symptome und damit auch die Therapieansätze sind sehr individuell. Die Leitlinien sprechen von einem plausiblen individuellen Krankheitsmodell als Grundlage für die Behandlung. Es gibt bei RDS keine Standardtherapie. Die Therapieversuche orientieren sich an den (Haupt-)beschwerden. Diese können sein Durchfall, Verstopfung, Schmerzen, Blähungen, Sodbrennen und Magenbeschwerden sowie Krämpfe. Anhang besonderer individueller Ausprägungen bzgl. Durchfall, Verstopfung oder wechselnde Stuhlgewohnheiten unterscheidet man RDS-Untergruppen.

Neben Medikamenten spielen auch allgemeine Maßnahmen wie Ernährung und Stressmanagment (Stichwort individuelle Triggerfaktoren) sowie die psychosomatische Grundversorgung eine wichtige Rolle bei der Behandlung.

„Trotz vielfacher Bemühungen auf allen Ebenen der Schul- und Naturmedizin ist bis heute das Mittel gegen das Reizdarmsyndrom, das allen Patienten hilft, nicht gefunden. Ein Grund mag sein, dass das Krankheitsbild eine so große Vielfalt von Symptomen, Ausprägungsgraden und individuellen Auslösern hat. Vieles konnte noch nicht vollständig erforscht werden.“ – Deutsche Reizdarmsyndromselbsthilfe e.V.

Gängige Therapien:

Alosetron, Amitriptylin, Butylscopolamin, Flohsamenschalen, Iberogast, Laktulose-Saft, Loperamid, Lubiproston-Tabletten, Mebeverin, Paroxetin, PEG-Elektrolyt-Laxantien, Pfefferminzöl, Probiotika, Prucaloprid, Rifaximin, Simeticon

Quelle: „Beispiele von gängigen Therapieschemata bei der pharmakologischen Behandlung des RDS von Erwachsenen“, Leitlinien

Quelle: Deutsche Reizdarmsyndromselbsthilfe e.V.

Begleiterkrankungen: Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, Depressionen, Kopfschmerzen, Fibromyalgie

Prävalenz: „Gruppe funktioneller Darmerkrankungen, die eine hohe Prävalenz (Krankheitshäufigkeit in der Bevölkerung) haben und bis zu 50 % der Besuche beim Spezialisten (Gastroenterologe) ausmachen. […] Die Punktprävalenz (Krankheitshäufigkeit) in westlichen Ländern beträgt ca. 10–20 % bei einer wesentlich höheren Lebenszeitprävalenz.“ (Wikipedia)

Symptome: Durchfall, Verstopfung, Schmerzen, Blähungen, Sodbrennen und Magenbeschwerden, Krämpfe

Relevante Leitlinien:

Fachorganisationen:

Cannabis als Medizin im Einsatz beim Reizdarmsyndrom

Was ist plausibel: Die Symptome des RDS lassen einen Therapie mit Cannabis als Medizin plausibel erscheinen.

Relevanz: RDS scheint ein interessantes Einsatzgebiet für Cannabis als Medizin zu sein. Hier für spricht die hohe Zahl der Betroffenen, die unbefriedigende Erfolgsaussichten bei den bisherigen Therapieoptionen, dass RDS eine sehr individuelle Erkrankung ist und mit einer Vielzahl Symptome einhergeht. Auch bei den gängigen Begleiterkrankungen eignet sich Cannabis als Medizin.

Verbreitung: Mir sind mehrere Patienten bekannt, die Cannabis als Medizin bei Reizdarm einsetzen, einige davon mit Ausnahmegenehmigung. In den USA ist die Diagnose auf den Positivlisten eines oder mehrerer Staaten aufgeführt. Dr. Sulak berichtet ebenfalls von der Nutzung in den USA, siehe unten. Es ist anzunehmen dass unter den bekannten Patienten z.B. in den USA und Deutschland auch Patienten dabei sind, die Cannabis bei ihrem Reizdarm nutzen, deren offizielle (Haupt-)diagnose jedoch eine andere ist.

Studienlage: ziemlich dünn

Autoren:

Reizdarmsyndrom

Bisher wurden 3 experimentelle Studien veröffentlicht. In einer Studie wurde die Gabe von THC 2-mal/Tag (Dronabinol 2,5 mg oder 5 mg oder Placebo; Studiendauer: 2 Tage) bei 36 Patienten mit diarrhödominanter Form des RDS untersucht. Dronabinol hatte im Vergleich zu Placebo keinen Einfluss auf die Kolontransitzeit [37]. Die 1-malige Gabe von 5 mg Dronabinol 1-mal/Tag bei insgesamt 75 Patienten mit verschiedenen Formen des RDS reduzierte im Vergleich zu Placebo die Nüchternkolonmotilität von Patienten mit diarrhödominanter und gemischter Form des RDS [36]. Die 1-malige Gabe von THC 1-mal/Tag hatte bei 11 RDS-Patienten keinen Einfluss auf die viszerale Sensitivität nach rektaler Luftinsufflation [16]. Die drei Studien liefern keine überzeugende pathophysiologische Rationale für den Einsatz von Cannabinoiden beim RDS.

16.     Klooker TK, Leliefeld KE et al (2011) The cannabinoid receptor agonist delta-9-tetrahydro-cannabinol does not affect visceral sensitivity to rectal distension in healthy volunteers and IBS patients. Neurogastroenterol Motil 23(1):30–35, e2

36.     Wong BS, Camilleri M et al (2011) Pharmacogenetic trial of a cannabinoid agonist shows reduced fasting colonic motility in patients with nonconstipated irritable bowel syndrome. Gastroenterology 141(5):1638–1647.e1–7

37.     Wong BS, Camilleri M et al (2012) Randomized pharmacodynamic and pharmacogenetic trial of dronabinol effects on colon transit in irritable bowel syndrome-diarrhea. Neurogastroenterol Motil 24(4):358–169

Weitere Artikel:

Treffer auf cannabis-med.org

In einer Studie aus dem Jahr 2007 wurde 52 Probanden 7,5 mg oralem THC oder ein Placebo gegeben. Der Effekt laut Zusammenfassung der IACM war: THC verursachte eine signifikante Zunahme der Dehnbarkeit des Dickdarms, eine nicht-signifikante Zunahme der Entspannung des Dickdarmtonus während der nüchternen Phase und eine signifikante Hemmung des Dickdarmtonus nach der Mahlzeit.

Die Autoren schlussfolgerten, dass THC den Dickdarm entspannt und seine Beweglichkeit und seinen Tonus nach einer Mahlzeit reduziert. „Das Potenzial für CBR [Cannabinoidrezeptoren], die motorische Funktion des Dickdarms bei Durchfallerkrankungen wie etwa dem Reizdarm-Syndrom zu beeinflussen, bedarf weiterer Untersuchungen“, schrieben sie.

Studie: Esfandyari T, Camilleri M, Busciglio I, Burton D, Baxter K, Zinsmeister AR. Effects of a cannabinoid receptor agonist on colonic motor and sensory functions in humans: a randomized, placebo-controlled study. Am J Physiol Gastrointest Liver Physiol, 29. März 2007 – IACM-Informationen vom 31. März 2007

THC reduziert Bewegungen des Dickdarms bei Patienten mit Reizdarm

Forscher an einem Zentrum für Darmforschung (Clinical Enteric Neuroscience Translational and Epidemiological Research, CENTER) in Rochester, USA, untersuchten die Wirkungen von THC (Dronabinol) auf die Bewegungen des Dickdarms sowie die Empfindungen bei Patienten mit Reizdarm. 75 Patienten mit Reizdarm (35 mit Reizdarm und Verstopfung, 35 mit Reizdarm und Durchfall und fünf mit einem Wechsel zwischen Verstopfung und Durchfall) wurden zufällig drei Gruppen zugeordnet, die eine Dosis Plazebo oder 2,5 mg oder 5,0 mg Dronabinol erhielten. Die Wissenschaftler beurteilten die Bewegungen des Dickdarms, seinen Tonus und die Sinneswahrnehmungen während des Fastens und nach einer Mahlzeit.

Bei allen Patienten reduzierte THC im Vergleich zum Plazebo die Bewegungen des Dickdarms während des Fastens. Die Wirkungen von Dronabinol waren am größten bei Patienten mit Reizdarm und Durchfall und mit Reizdarm und Wechsel von Durchfall und Verstopfung. Dronabinol beeinflusste nicht die Wahrnehmung oder den Tonus (Muskelspannung des Darms). Die Forscher folgerten, dass bei Patienten mit Reizdarm „Dronabinol einen möglichen Nutzen bei jenen (…) mit beschleunigter Passage liefern könnte“. Sie fanden zudem heraus, dass Varianten des CB1-Rezeptors und des Enzyms, das den Abbau des Endocannabinoids Anandamid katalysiert, die Fettsäureamidhydrolase (FAAH), diese THC-Wirkung beeinflussen könnten.

(Quelle: Wong BS, Camilleri M, Busciglio I, Carlson P, Szarka LA, Burton D, Zinsmeister AR. Pharmacogenetic Trial of a Cannabinoid Agonist Shows Reduced Fasting Colonic Motility in Patients with Non-Constipated Irritable Bowel Syndrome. Gastroenterology, 28. Juli 2011 [im Druck])

– aus den IACM-Informationen vom 13. August 2011

In einer Studie französischer Wissenschaftler führte die orale Gabe von Lactobacillus acidophilus, ein Bakterium, das sich üblicherweise in Joghurt findet, zu einer vermehrten Bildung von Opiat- und Cannabinoid-Rezeptoren in Darmzellen und vermittelte schmerzlindernde Funktionen im Darm, die den Wirkungen von Morphium ähneln. – aus den IACM-Informationen vom 23. Dezember 2006

In einer doppelblinden und kreuzkontrollierten Studie wurde die rektale Empfindlichkeit von 10 Patienten mit Reizdarm und 12 gesunden Freiwilligen nach einem Placebo, und zwei verschiedenen THC-Dosen (5 und 10 mg) untersucht. Das THC änderte die Wahrnehmung nicht, die Forscher folgerten, dass ihre Ergebnisse „gegen (zentral wirkende) CB-Agonisten als Mittel zur Reduzierung der viszeralen Überempfindlichkeit“ bei Patienten mit Reizdarm sprechen. (Quelle: Klooker TK, et al. Neurogastroenterol Motil, 16. August 2010) – IACM-Informationen vom 28. August 2010

Die Spiegel von Endocannabinoiden und Endocannabinoid-ähnlichen Fettsäure Amiden im Blutplasma korrelierten mit schmerzbezogenen Symptomen bei Patienten mit Reizdarm, die an Durchfall oder Verstopfung litten. […] Die Forscher folgerten, dass die „hier berichteten Änderungen die Annahme unterstützen, dass das Endocannabinoidsystem in die Pathophysiologie des Reizdarms und die Entwicklung der Reizdarm-Symptome involviert ist“. Fichna J, et al. PLoS One. 2013;8(12):e85073. – aus den IACM-Informationen vom 11. Januar 2014

THC beeinflusst nicht die Dickdarmbewegungen bei Reizdarm

In einer kontrollierten klinischen Studie an der Mayo-Klinik in Rochester (USA) mit 63 Patienten, die an einem Reizdarm und Durchfall litten, verursachten niedrige Dronabinol-Dosen (2,5 oder 5 mg) keine Behandlungswirkungen auf die Passage der Nahrung im Magen, Dünndarm und Dickdarm. Bei Patienten mit einer bestimmten Variante des CB1-Rezeptorgens wurde eine leichte Verzögerung der Dickdarmpassage beobachtet. (Quelle: Wong BS, et al. Neurogastroenterol Motil, 30. Januar 2012) – aus den IACM-Informationen vom 11. Februar 2012

Eine bestimmte Variante im Gen, das den CB1-Rezeptor codiert, die so genannte „(AAT)n-Wiederholung des CNR1“ war mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung eines Reizdarms verbunden.  Klinik für Gastroenterologie und Hepatologie, Erstes Volkskrankenhaus von Guangzhou, Medizinische Universität Guangzhou, China. Jiang Y, et al. J Gastroenterol Hepatol, 20. Januar 2014) – aus den IACM-Informationen vom 25. Januar 2014

Palmitoylethanolamid könnte nützlich bei Reizdarm sein

Das Endocannabinoid Palmitoylethanolamid bekämpfte die verstärkten Darmbewegungen in einem Mausmodell des Reizdarms. Dieser Effekt war durch CB1-Rezeptoren vermittelt, vermutlich über erhöhte Anandamid-Spiegel und Modulierung von Vanilloid-Rezeptoren.
Pharmazeutisches Institut, Universität Federico II, Neapel, Italien. Capasso R, et al. Br J Pharmacol, 12. Mai 2014 – aus den IACM-Informationen vom 17. Mai 2014

Genvarianten des CB1-Rezeptors sind mit Darmbewegungen assoziiert

In einer Studie mit 455 Patienten mit REIZDARM und 228 gesunden Personen waren bestimmte Varianten des Gens für den Cannabinoid-1-Rezeptor mit Bewegungen des Dickdarms assoziiert. „Diese Daten unterstützen die Hypothese, dass Cannabinoidrezeptoren eine Rolle bei der Kontrolle der Dickdarm-Passage und der damit verbundenen Wahrnehmungen beim Menschen spielen könnten. Sie verdienen weitere Untersuchungen als mögliche Vermittler oder therapeutische Angriffspunkte bei unteren funktionellen gastrointestinalen Störungen.“ Mayo-Klinik, Rochester, USA. Camilleri M, et al. Am J Physiol Gastrointest Liver Physiol, 10. Januar 2013 – aus den IACM-Informationen vom 26. Januar 2013

Colorado stellt 8 Millionen Dollar für die Erforschung des Nutzens von medizinischem Cannabis zur Verfügung, u.a. für die Diagnose Reizdarm – IACM-Informationen vom 27. Dezember 2014

In einer tierexperimentellen Studie konnte eine Überempfindlichkeit durch chronischen leichten Stress durch das synthetische Cannabinoid Arachidonyl-2′-chloroethylamide (ACEA) reduziert werden. Die Wirkung war durch den CB1-Rezeptor vermittelt. – IACM-Informationen vom 14. August 2010

Bekannte Spezialisten zu Cannabis als Medizin und dieser Diagnose?

Was sagen Patienten zur Cannabis beim Reizdarmsyndrom

„Ich leide auch unter einen psychosomatisch bedingten Reizdarm und kann aus meiner Erfahrung sagen das Cannabis bei mir besser als alles andere Hilft. Ich habe oft mit unangenehmen Blähungen, Krämpfen und Durchfall die sich mit Verstopfung abwechseln zu tun. Wenn ich richtig Stress habe kann ich die Uhrzeit danach stellen wann die Symptome auftauchen…. Leider ist Reizdarm nicht gleich Reizdarm weil so ziemlich alles unter diese Diagnose fällt was denn Darm betrifft und andersweitig nicht erklärbar ist.“ – Ein Patient

Wirksamkeit und Nebenwirkungen bei einzelnen Symptomen

– von Medikamenten und anderen Therapien

– von Cannabis (ggf. nach Sorten)

– von Dronabinol, Sativex, CBD etc.

Cannabis Dosierung

Sonstiges:

Reizdarmsyndrom und Ausnahmegenehmigung

Welche Medikamente und Therapie sind notwendig bis man austherapiert ist?

„Das kann man pauschal nicht sagen.  Wenn ich dies wüsste hätte ich schon längst die Ausnahmegenehmigung gestellt.“ – Ein Patient

Welche Medikamente werden

– mangels ausreichender Wirkung und/oder

– zu starker Nebenwirkungen

– Unverträglichkeit

nicht (mehr) eingenommen oder in reduzierter Dosis oder normaler Dosis eingenommen?

Fallberichte

Beschreibung: Der Patient leidet aufgrund eines RDS an Untergewicht, Appetitlosigkeit, tägliche Schmerzen und dadurch unregelmäßigen Schlaf. Die gängigen Medikamente Pantozol, Dulcolax, Buscopan und Iberogast wurden probiert, zeigen aber eine mangelhafte Wirksamkeit. Er konsumiert etwa ein Gramm Cannabis pro Tag, bevorzugt „appetitanregende Sorten“, auch aufhellende sind gut wegen Komorbidität. Erfahrungen mit anderen Cannabisarzneimitteln liegen nicht vor.

Bewertung: Zum Thema Appetit habe ich beispielsweise quasi nichts bei den Artikeln über das RDS gefunden, ist aber eine typische Indikation für Cannabis ebenso wie die Begleit-/Folgeerkrankung Schlafprobleme. Therapieversuch mit Amitriptylin sollte erwogen werden.

Sonstiges

Je nach individueller Ausprägung der Symptome kann der Beigebrauch von Tabak – ebenso wie Kaffee oder Alkohol – einen positiven oder negativen Einfluss auf die Symptome haben.

Patienten berichten von positiven Erfahrungen mit Kratom (Mitragyna speciosa) und „Indischem Weihrauch“ (gewonnen aus dem Salaibaum (Boswellia serrata).

Kontakt zu Ärzten und Patienten: Wer hier seine Kontaktdaten bereitstellen möchte, möge sich bei mir melden. Anstelle der EMail Adresse kann ich auch anbieten eine für euch anonyme Kontaktmöglichkeit zu nennen.

Die mobile Version verlassen