Dr. Raphael Gaßmann, Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. bei der Anhörung „Legalisierung von Cannabis durch Einführung von Cannabis-Clubs“.
„Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) wurde 1947 gegründet, um allen in der Suchtkrankenhilfe bundesweit tätigen Verbänden und gemeinnützigen Vereinen eine Plattform zu geben. Mit wenigen Ausnahmen sind sämtliche Träger der ambulanten Beratung und Behandlung, der stationären Versorgung und der Selbsthilfe in der DHS vertreten.“ (Selbstbeschreibung)
Öffentliche Anhörung zum Antrag der Abgeordneten Frank Tempel, Dr. Martina Bunge, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Legalisierung von Cannabis durch Einführung von Cannabis-Clubs BT-Drucksache 17/7196 Berlin, den 25.01.2012, 14:00 Uhr
Quelle: Deutscher Bundestag
Video: http://dbtg.tv/cvid/1526705
Protokoll: http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/a14/anhoerungen/Archiv/p_Cannabis/062_25_01_2012_Cannabis-Clubs.pdf
SV Dr. Raphael Gaßmann:
Der Vergleich von Alkohol und Cannabis ist aus verschiedenen Gründen sehr schwierig. Ein Grund ist, dass in Deutschland etwa 95 Prozent aller Erwachsenen hin und wieder, häufig oder sehr häufig Alkohol konsumieren. Demgegenüber stehen laut Prof. Thomasius etwa drei Millionen Cannabiserfahrene. Das ist sehr ungenau. Bei einer Befragungen im letzten Jahr erklärten etwa drei bis vier Millionen Befragte, dass sie im vergangenen Jahr Cannabis konsumiert hätten. Das ist ein gewaltiger Zahlenunterschied. Die Wirkungen der beiden Rausch- und Suchtmittel sind zudem sehr unterschiedlich. Alkohol enthemmt, macht aggressiv und tendenziell schmerzunempfindlich. Alkohol und Gewalt ist ein Thema, das uns in letzter Zeit immer mehr beschäftigt – auch die Kriminologie. Bei Cannabis ist Gewalt aber nicht die Hauptproblematik.
Cannabis ist ein Rausch- und Suchtmittel, das eher entspannt und beruhig. Ein Abhängigkeitspotenzial haben selbstverständlich beide. Egal, ob man sich für oder gegen welche Form der Legalisierung auch immer ausspricht, natürlich muss man festhalten, Cannabis kann abhängig machen. Wir haben in Deutschland in den ambulanten und stationären Einrichtungen der Suchthilfe im Moment schätzungsweise 30.000 Klienten mit der Hauptdiagnose Cannabisabhängigkeit. Rund 30.000 Klienten bei ungefähr drei Millionen Konsumenten – dies ist nicht Nichts. Diese Zahl muss man ernst nehmen.
Die Frage ist, für welche spezielle Zielgruppe Cannabis ein wahrscheinliches Problem darstellt. Es kann wie bei Alkohol festgestellt werden, dass es immer das Gleiche ist: Je jünger ein Mensch mit dem Cannabiskonsum beginnt und je häufiger er konsumiert, desto problematischer wird es für ihn. Vor einigen Jahren legte das Institut für Therapieforschung (IFT) bzw. Prof. Bühringer eine von Dr. Simon vor fünf Jahren erstellte Studie vor. Darin stellt Dr. Simon – er arbeitet heute bei der Europäischen Drogenbeobachtungsstelle – fest, dass bei unter 18-Jährigen, die täglich mehrere starke Joints konsumieren, die Wahrscheinlichkeit, dass sie abhängig werden und in Folge dessen schwere psychische Symptome zeigen, extrem hoch ist.
Aus Sicht der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen ist die entscheidende Frage nicht, ob Cannabiskonsum abhängig machen kann und ob es schädlich ist. Die entscheidende Frage ist die des Cannabisverbots. Nutzt das Cannabisverbot im positiven Sinne? Bewirkt das Verbot, dass weniger Menschen Cannabis konsumieren und dass jene, die Cannabis konsumieren, auf Grund des Verbots weniger konsumieren. Das ist die entscheidende Frage und nicht die Frage, ob Cannabis abhängig machen kann. Selbstverständlich macht es abhängig, denn es ist ein Rausch- und Suchtmittel.
SV Dr. Raphael Gaßmann:
In unserer Stellungnahme haben wir bereits auf den im Juni 2011 erschienen Bericht der Global Commission on Drug Policy Bezug genommen. Ich weiß nicht, ob der Bericht allen vorliegt bzw. bekannt ist. Die Kommission ist eine Nicht-Regierungsorganisation, ein internationaler Zusammenschluss mit 20 oder 30 Mitgliedern. Darunter befinden sich die ehemaligen Präsidenten von Kolumbien, Mexiko, Brasilien sowie George Papandreou, der bis vor kurzem Ministerpräsident in Griechenland war, und, in Deutschland sicher noch bekannt, Frau Caspers-Merk, die frühere Drogenbeauftragte der Bundesregierung (SPD). Dieser Bericht sagt ganz eindeutig: Der Krieg gegen die Drogen ist gescheitert. Alle Versuche, Drogen durch Verbote und Kriminalisierung im Zaum zu halten, ihre Verbreitung zu verhindern sowie das Gefährdungspotenzial zu minimieren, sind gescheitert. Sie führen lediglich zu Schäden, aber nicht zu positiven Effekten. Jetzt mag man sagen, dass dies Ex-Politiker seien, die sich am Ende ihrer Karriere nochmals einige grundsätzliche Gedanken machten und dass sich ohne politische Verantwortung vieles formulieren lasse, das man in Regierungsverantwortung besser nicht formuliere.
Doch ich möchte Sie auch auf den Bericht „Stand der Drogenproblematik in Europa 2010“ der Europäischen Beobachtungstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) in Lissabon hinweisen. Die EBDD ist eine Einrichtung der Europäischen Union, an der auch Deutschland beteiligt ist. Der Bericht der EBDD ist ebenfalls 2011 erschienen und im Internet abrufbar. Es ist eine hochinteressante Untersuchung. Die EBDD beschäftigt sich schon seit langer Zeit mit der Frage, wie Verbot und Verbreitung sowie Verbot und Gefährlichkeit zusammenhängen. In Europa hatten wir in den letzten zehn Jahren die Situation, dass viele Gesetze, auch zu Cannabis, geändert wurden. In einigen Ländern wurden sie verschärft, indem das Strafmaß heraufgesetzt wurde. In anderen Ländern hat man das Strafmaß reduziert. Die EBDD hat diesen Prozess beobachtet. Gleichzeitig erhebt sie seit ihrer Gründung vor rund 15 Jahren Daten zur Verbreitung illegaler Rauschmittel in Europa. Die EBDD hat nun untersucht, welchen Zusammenhang es zwischen der Gesetzgebung und der Verbreitung von Drogen gibt. Das sehr ausführlich dargestellte und auch begründete Ergebnis ist, dass in Ländern mit verschärften Strafmaßnahmen der Konsum gleich geblieben, gestiegen oder gesunken ist. In Ländern mit reduzierten Strafen und gelockerten Gesetzen ist der Konsum ebenfalls gleich geblieben, leicht angestiegen oder aber auch deutlich gesunken. Die EBDD kommt deshalb zu dem Schluss, dass über den Untersuchungszeitraum von zehn Jahren in den betrachteten Ländern – Italien, England, Slowakei, Dänemark, Finnland, Portugal, Bulgarien und Griechenland – kein deutlicher Zusammenhang zwischen den Gesetzesänderungen und den Prävalenzraten des Cannabiskonsums ermittelbar ist. In diesem Satz ist nur eine Aussage wissenschaftlich problematisch: kein deutlicher Zusammenhang. Wir müssen es ganz deutlich sagen: Es gibt keinen Zusammenhang.
Wir haben in den Niederlanden, die wir als Nachbarn gerade in der Cannabisfrage seit Jahrzehnten genau beobachten, nach Einführung der Coffee-Shops und der entspannteren Strafverfolgung – Cannabis ist auch dort nicht legal – recherchiert, wie sich der Konsum im Vergleich zu Deutschland entwickelt hat. Bis in die 1990er Jahre lag er immer etwas über dem deutschen Konsum. Konsumierten damals in Deutschland sieben bis acht Prozent der Jugendlichen regelmäßig Cannabis, waren es in den Niederlanden etwa zehn Prozent. Seit ungefähr zehn Jahren hat sich dies nun umgekehrt. Laut EU-Drogenbeobachtungsstelle sind es in den Niederlanden elf Prozent und in Deutschland etwa 15 Prozent. Hierbei handelt es sich um seriöse Untersuchungen mit derselben Methodik. Sämtliche Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass sich weder ein positiver noch ein negativer Zusammenhang zwischen den Angebotsformen und der Gesetzgebung feststellen lässt.
Zur Frage nach der Prävention kann ich sagen, dass es in Deutschland keine Cannabisprävention gibt. Es existieren lediglich eine überschaubare Zahl von Programmen zur Frühintervention, die in der Verantwortung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) liegen. Im Internet finden sich Programme für Cannabiskonsumenten, die aussteigen oder den Konsum reduzieren wollen. Dies sind interaktive Programme, die sehr sinnvoll sind und offensichtlich auch funktionieren. Aber es gibt keine Präventionskampagnen wie wir sie für jugendliche Alkoholtrinker kennen – zum Beispiel die große Kampagne „Kenn dein Limit.“.
Ich berichte Ihnen, wie die Niederlande seit vielen Jahren Prävention betreibt. Dort sind zum Beispiel in den Hotels Karten im Scheckkartenformat ausgelegt, auf denen die staatlichen Institutionen der Drogenprävention aufklären, wie man Cannabis konsumieren sollte, wenn man es konsumieren will. Es wird nicht zum Konsum geraten, es wird aber gesagt, wenn man konsumieren will, dann bitte nicht zusammen mit Alkohol, dann bitte nur eine Konsumeinheit und nicht drei Joints hintereinander, dann bitte nicht alleine, sondern in Gegenwart von Freunden, die sich auskennen, wenn etwas passiert, bitte auf keinen Fall vor Abklingen der Wirkung am Straßenverkehr teilnehmen und bitte nicht an das offene Fenster im Hotel setzen, wenn man Cannabis konsumiert hat. Auf all diese Dinge wird aufmerksam gemacht.
Dies gibt es in Deutschland nicht, weil wir diese Art von Prävention nicht machen können. Sie setzt nämlich voraus, dass die Präventionseinrichtungen akzeptieren, dass Millionen junge und erwachsene Menschen Cannabis konsumieren. Es stellt sich die Frage, welche Präventionsbotschaften wir für einen harmloseren Konsum haben. Denn in Deutschland können wir den Jugendlichen nicht, wie wir es bei Alkohol machen können, sagen: Alkohol ist eine nicht ungefährliche Substanz, es ist bekannt, dass nahezu alle trinken – 95 Prozent der Erwachsenen trinken Alkohol – aber bitte, liebe Eltern, liebe Kinder, fangt nicht mit 14 Jahren an und betrinkt euch nicht jedes Wochenende. Beginnt erst mit 16, 17, 18 Jahren. Das steht im Jugendschutzgesetz. Dies ist bei Cannabis nicht möglich, weil sich die genannten Ansätze nicht mit der deutschen Rechtssituation vertragen.
SV Dr. Raphael Gaßmann:
Offensichtlich wird die Position der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen von den anwesenden Gutachtern sehr widersprüchlich eingeschätzt. Zunächst wurde gesagt, ich hätte Coffee-Shops positiv beurteilt. Ich habe Coffee-Shops nicht positiv beurteilt, ich würde auch die Cannabis Social Clubs in Spanien nicht positiv beurteilen. Der Grund ist relativ einfach: Es fehlen aktuelle Untersuchungen über die Auswirkungen von Coffee-Shops. Damit meine ich keine Einzelstudien, sondern aktuelle, breit angelegte Untersuchungen. Zu den Cannabis Social Clubs liegen überhaupt keine Untersuchungen vor. Deshalb haben wir in unserer Stellungnahme auch geschrieben, dass die Auswirkungen zu eruieren und zu untersuchen wären. Zu den Cannabis Social Clubs sind nur einzelne Fakten bekannt: beispielsweise, dass ein Club wegen illegaler Geschäfte geschlossen wurde. Diese Fakten ergeben aber kein Gesamtbild und ermöglichen somit auch keine genaue Einschätzung.
Ich habe nur festgestellt, dass die gültigen epidemiologischen Daten und die sehr soliden internationalen Untersuchungen sagen, in den Niederlanden ist der Konsum trotz oder wegen der Coffee-Shops – auch dies ist nicht bekannt – geringer. Damit habe ich mich weder positiv noch negativ zu Coffee-Shops geäußert.
Im Zusammenhang mit den präventiven Maßnahmen haben Sie „FreD – Frühintervention bei erstauffälligen Drogenkonsumenten“ genannt. Allerdings heißt dieses Programm nicht „PreD – Prävention bei Erstauffälligen“, sondern eben Früherkennung. Früherkennung ist keine Prävention. Früherkennung ist eine Intervention bei jungen Menschen, die Schwierigkeiten haben und bereits von der Polizei aufgegriffen wurden. Die Maßnahmen, die Sie nennen, Prof. Thomasius, gibt es natürlich. Und zum Glück gibt es sie.
Aber eine Prävention – ich habe deutlich gemacht, welche Art von Prävention ich meine –, die flächendeckend und kontinuierlich ist und die sich nicht ausschließlich an Problemkonsumenten wendet, die bereits vor Gericht gestanden haben, fehlt in Deutschland. Es fehlt eine allgemeine Prävention, die sich vor allem an junge Menschen wendet und das Ziel hat, zu sagen: steigt möglichst spät ein und wenn, dann konsumiert es selten und so sicher wie möglich.
In der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen sind, mit kleinen Ausnahmen, alle Verbände zusammengeschlossen, die Suchthilfe anbieten – egal ob es um Alkohol, illegale Suchtmittel, Rauchen oder sonstige Süchte geht. Zusammen sind das mehr als 1.000 ambulante Beratungsstellen und einige hundert Kliniken für stationäre Therapien. In den letzten zehn bis 15 Jahren ist eine steigende Nachfrage nach Hilfe und Therapie im Bereich Cannabis zu erkennen. Unter die Cannabisproblematik fallen junge Menschen, die gerade mit dem Konsum angefangen haben, deren Eltern sich Sorgen machen, weil sie bei ihrem 15-jährigen Jungen ein braunes Ding gefunden haben, und sie wissen wollen, was dies zu bedeuten hat, was man tun kann und wohin der Konsum führt. Es betrifft aber auch Klienten in den stationären Einrichtungen, die schwere Probleme haben und mehrere Monate stationär behandelt werden müssen – Herr Prof. Thomasius kennt die Fälle natürlich aus seiner reichhaltigen Erfahrung als Therapeut.
Insgesamt haben diese Fälle in den letzten zehn Jahren zugenommen. Auf Grund dieser Erkenntnis wurden die Hilfe- und Therapieangebote ausgeweitet. Das heißt, obwohl der Höhepunkt des Cannabisgebrauchs vor rund drei oder vier Jahren lag – derzeit sinkt der Konsum wieder leicht – steigt die Nachfrage nach Cannabistherapien kontinuierlich, weil die entsprechenden Angebote vorhanden sind. Bei einem Rausch- und Suchtmittel, das von mehreren Millionen Menschen konsumiert wird –, haben wir 20.000 oder 30.000 Therapien auf Grund der Hauptdiagnose Cannabiskonsum. Hinzuzurechnen sind noch jene Einrichtungen, die nicht befragt wurden. In Summe kommt man wahrscheinlich auf 35.000 durchgeführte Therapien. Dazu müssen noch jene Konsumenten addiert werden, die gar nicht in Therapie gehen. Wir wissen nicht, wie viele dies sind. Die Angebote werden jedenfalls immer stärker genutzt. Sie sind sehr professionell geworden und sehr hilfreich.
Aber ich wiederhole: Es geht nicht um die Frage, wie gefährlich ist Cannabis, sondern es geht um die Frage, was nützen Verbote und was sind die Alternativen zu den Verboten. Das müssen wir diskutieren.